Severus Snape retten
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2. Mai 1998 – 10:30 Uhr
Achtundzwanzig Stunden, seit sie das letzte Mal geschlafen hatte. Könnte das richtig sein, fragte sie sich? Es fühlte sich an wie Tage. In diesen letzten achtundzwanzig Stunden war sie in Gringotts eingebrochen, verkleidet als Bellatrix Lestrange, auf einem Drachen entkommen, kämpfte in einer Schlacht, die ihresgleichen noch nie gesehen hatte, und hatte mehr Tod und Verwüstung erlebt als jede andere - vor allem keine Achtzehnjährige - jemals erleben hätte sollen. Eigentlich hätte sie erschöpft sein müssen. Aber das war sie nicht. Es war ein paar Stunden her, seit Ronald Weasley und Harry Potter Dumbledores Büro für den Komfort ihrer Himmelbetten in den Gryffindor-Schlafsälen verließen. Sie flehten sie an, ihr zu folgen, doch aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht dazu durchringen, zu gehen. Da war etwas, von dem Hermione Granger das Gefühl hatte, dass es nur... falsch war.
Natürlich hätten all jene, die ihr Leben verloren hatten, es eigentlich nicht tun sollen, aber da war ein Todesfall, von dem sie tief in ihrem Bauch wusste, dass er nicht hätte sein dürfen.
Hermione ging vor Professor Dumbledores Schreibtisch auf und ab - naja, eigentlich war es der von Professor Snape. Die Sonne schien durch die Fenster, und da die Geräusche der Schlacht aufgehört hatten, war es gespenstisch still. Ihre Stirn runzelte sich, als sie laut mit sich selbst sprach.
„So hätte es nicht sein sollen", flüsterte sie. „Es war unnötig. Alles nur, weil..." Sie verstummte.
Sie wanderte in völliger Stille weiter hin und her. Alle vorherigen Schulleiter und Schulleiterinnen hatten ihre Porträts verlassen, um besser sehen zu können, was im Rest des Schlosses vor sich ging. Der einzige Bewohner, der übrig blieb, war Dumbledore, der anscheinend in seinem Rahmen schlief.
Nachdem Harry seinen Zauberstab repariert und mit Dumbledores Porträt gesprochen hatte, erklärte er ihr und Ron alles. Sie wussten vom Stein der Auferstehung, dass Harry ein unbeabsichtigter Horkrux war und dass Professor Snape wirklich auf ihrer Seite stand. Auch wenn Hermione von all den Informationen überrascht war, auf irgendeine Art und Weise war sie es nicht. Sie hatte eine Vorstellung bezüglich Harry, denn er war die ganze Zeit über so leicht in der Lage gewesen, in Voldemorts Gedanken zu blicken. Die Tatsache, dass es die Heiligtümer wirklich gab, und dass der Stein in dem Schnatz gewesen war, den Dumbledore Harry gegeben hatte, war der größte Schock von allen.
Aber Snape... Sie hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass er vielleicht wirklich für den Orden arbeitete. Warum sonst hätte Dumbledore ihm so vollkommen vertraut? Offensichtlich hatte sie ihren Verdacht noch nie laut ausgesprochen. Ron hätte gedacht, sie sei verrückt, und Harry hätte sicher nie wieder mit ihr gesprochen, geschweige denn, sie auf seiner Jagd nach Horkruxen mitkommen lassen. Und doch war es Professor Snapes Tod, den sie als so falsch empfand.
„Er hat Dumbledore auf Dumbledores eigenen Wunsch hin getötet", begann sie wieder mit sich selbst zu sprechen. „Also war der Zauberstab nie wirklich seiner, genau wie Harry gesagt hatte."
Sie hielt inne und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Er hätte nicht getötet werden sollen."
Wenn es nur einen Weg gegeben hätte, wie sie es hätte verhindern können... Was hätte sie tun können, um die Dinge zu ändern oder sicherzustellen, dass er nicht das gleiche Schicksal erlitt? Offensichtlich war ein Zeitumkehrer vom Tisch, da sie alle zerstört worden waren, wie hätte sie es also verhindern können?
„Sein Leben war so tragisch", seufzte sie. „Der Mann kannte wirklich kein Glücklichsein - das ist schrecklich. Vielleicht war das der Grund, warum er nicht einmal versuchte, seinen Tod zu verhindern. Er hat – er hat sich von Voldemort einfach töten lassen. Nach allem, was er getan hat, und geopfert hat, hat er es verdient zu leben. Zu leben und glücklich zu sein."
Genau in diesem Moment, fast als Antwort auf ihre Grübeleien, öffnete sich eine Schublade neben der Stelle, an der Dumbledore sein Denkarium aufbewahrte. Hermiones Kopf wandte sich dem Geräusch zu und sie sah eine Kiste, die aus ihr heraus schwebte. Neugierig ging sie hinüber und schnappte sie sich aus der Luft.
„Was um alles in der Welt...?" fragte sie sich, als die schlanke Kiste in ihren Händen ruhte.
Sie stürzte schnell zum Schreibtisch, um sie zu öffnen. Als sie den Inhalt darin sah, schnappte sie vor Schock nach Luft. Unmöglich... Sie blinzelte, in der Annahme, dass der Schlafmangel sie dazu veranlasste, Dinge zu sehen.
In der Mitte der Schachtel, teilweise mit schwarzen Seidentüchern umwickelt, lag unverkennbar ein Zeitumkehrer. Aber das war nicht das einzige Objekt darin, es gab auch einen Umschlag und ein zusammengefaltetes Stück Pergament unter der goldenen Kette.
Ihre Hände zitterten, als sie hineingriff und den Umschlag aufhob. Mit violetter Tinte auf der Vorderseite geschrieben, mit schräger und vage vertrauter Handschrift, stand darauf: „A.P.W.B.D." Sie schaute auf die Initialen, ohne Ahnung, was sie bedeuten, und bemerkte die gelbe Verfärbung des Papiers; der Umschlag war sehr alt. Sie drehte ihn um und sah, dass er mit violettem Wachs versiegelt war – das Wappen von Hogwarts. Nachdem sie ihn langsam wieder in die Schachtel gelegt hatte, sich immer noch fragend, um was es hier wohl gehen könnte, hob sie das, ebenfalls vom Alter vergilbte, Stück Pergament hoch. Vorsichtig entfaltete sie es mit zitternder Hand.
Sehr geehrte Miss Granger,
Wenn Sie dies lesen, dann ist es an der Zeit. Wie Sie inzwischen
bemerkt haben sollten, gibt es einen Zeitumkehrer, der vor Ihnen liegt.
Er wurde für Sie entsprechend eingestellt, damit Sie Ihre Reise
beginnen können. Wenn Sie bitte den Umschlag - ebenfalls darin enthalten -
mir selbst geben würden, sobald Sie ankommen. Ich bin mir sicher,
dass Ihnen in Kürze alles Sinn machen wird.
Mit freundlichen Grüßen,
Professor Albus Dumbledore
Hermione musste den Brief ein weiteres Mal lesen, aufgrund der Tatsache, dass ihre Hände so stark zitterten, konnte sie die Worte, nachdem sie „Zeitumkehrer" gelesen hatte, kaum erkennen.
„Die Kiste tauchte auf, nachdem ich erwähnt hatte, dass ich Professor Snape retten wollte. Ist das – ist es das, was ich tun soll?" Verzweifelt blickte sie auf das Porträt von Professor Dumbledore in der Hoffnung, dass er ihr einige Antworten geben würde. „Sir, bitte. Ist das der Sinn des Ganzen?" flehte sie.
Kein Laut kam von seinem Porträt, außer einem leisen Schnarchen. Doch Hermione hätte schwören können, dass sie sah, wie sich sein Mundwinkel zu einem halben Lächeln erhob. Wahrlich brauchte sie keine Antwort von Dumbledore, denn tief in ihrem Inneren wusste sie, was sie zu tun hatte.
Mit heftigem Herzklopfen blickte sie zur Tür und dann wieder auf die goldene Halskette, die ihr für einen unschuldig aussehenden Gegenstand in diesem Moment so furchteinflößend erschien. Ihre Beine fühlten sich plötzlich so an, als könnten sie sie nicht mehr tragen. Sie setzte sich auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch und legte ihren Kopf in die Hände.
„Soll ich gehen? Und wenn ja, soll ich den Jungs sagen, wohin ich gehe?", fragte sie sich laut. „Nein." Sie schüttelte den Kopf. „Sie werden nur versuchen, mich aufzuhalten. Oder schlimmer noch, versuchen mit mir zu kommen. Das sollte etwas sein, das ich alleine mache. Ich könnte sie nicht in noch mehr mögliche Gefahr bringen."
Hermione saß da und begann wirklich alles durchzudenken. Sie hatte keine Ahnung, an welchen Zeitpunkt der Zeitumkehrer sie bringen würde. Sie wusste nicht, wo sie landen würde, wenn sie ihn benutzte.
War es das wert, fragte sie sich? Sollte sie ihn benutzen? Sie zweifelte nicht daran, dass Professor Dumbledore ihn ihr geschickt hat... aber warum? Wenn sie Recht hatte, und es etwas mit Professor Snape zu tun hatte, war er es wirklich wert, möglicherweise ihr Leben aufs Spiel zu setzen?
Hermione drehte die goldene Kette um ihre Finger, während sie versuchte, herauszufinden, warum sie es tun sollte.
Er hätte versuchen sollen, sich selbst zu retten, und er hat es einfach nicht getan. Vielleicht könnte sie ihm, wenn sie zurückging zeigen, dass er wirklich kein schrecklicher Mensch war. Dass er eines Tages ein wahrer Held sein würde. Vielleicht würde er kämpfen. Kämpfen, um zu leben. Dieser Mann setzte sein Leben aufs Spiel, viele, viele Jahre lang, alles zum Wohle der Zaubereiwelt. Er war gezwungen den einzigen Mann, da war sie sich sicher, zu töten, den er wirklich als Freund betrachtete. Voldemort hätte ihn jederzeit ausfindig machen und sein Leben ohne nachzudenken beenden können. Sicherlich verdiente ein Mann, der in Ausübung seiner Pflicht Liebe geopfert hat, Freundschaft, Familie – und ein Stück von sich selbst auf dem Weg dorthin – eine zweite Chance. Eine Chance zu leben. Nicht nur zu atmen, Blut durch seine Adern zu pumpen und zu existieren, sondern wirklich zu leben. Und wenn es irgendeine Chance gab, dass sie das mit dem Zeitumkehrer erreichen könnte, dann beschloss sie, ihn zu benützen.
Und nachdem sie ihre Entscheidung getroffen hatte, stand Hermione zielstrebig auf. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, atmete sie tief ein, dann ging sie mit drei zittrigen Schritten auf den Schreibtisch zu, griff nach dem Umschlag und legte sich den Zeitumkehrer um den Hals. Ihr Herzschlag erreichte ein alarmierend gefährliches Tempo, und Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Sie aktivierte den Zeitumkehrer und das letzte was sie sah, bevor sich der Raum um sie herum zu drehen begann, war das Porträt von Professor Dumbledore, wie es ihr zuzwinkerte.
Hermione fand sich bald zu Boden geworfen, und dem Teppich neben ihrem Gesicht nach zu urteilen, war sie immer noch in Dumbledores Büro. Oder, wieder einmal in seinem Büro. Schnell stand sie auf – was nicht die beste Idee war. Sie begann, sich benommen zu fühlen und schwankte auf ihren Füßen. Ihr war übel, und sie versuchte, das Erbrechen zurückzuhalten, das aus ihr heraus zu explodieren drohte. Ihre Augen sahen unscharf, also hörte sie seine Stimme, bevor sie ihn wirklich sah. „Liebes Mädchen, was ist mit Ihnen passiert und wie sind Sie in meinem Büro erschienen?" fragte Dumbledore ruhig, als er sich von seinem Stuhl erhob.
Sie erstarrte. Es gab keine Möglichkeit, dass es sein könnte dass... Dumbledore spricht. Zeitumkehrer gingen höchstens ein paar Stunden zurück. Oder nicht?
„Sie wurden angegriffen." Sagte er, fragte er nicht. „Ich wurde..." Hermione verstummte. Sicherlich hatte sie eine Art Anfall.
Hermione war immer noch mit Blut und Schmutz bedeckt und trug zerrissene Kleidung. Sie konnte es nicht glauben, dass sie so töricht gewesen war, sich nicht zu waschen und ihr Gewand zu wechseln. Als sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, schaute sie an sich herunter und fing an, ihr Hemd zurechtzurücken und bemerkte, dass sie den Umschlag in ihrer Hand geballt hielt.
„Ich bin – Ich bin mir nicht ganz sicher, was vor sich geht", gab sie etwas schwach zu.
Als ihre Augen endlich fokussierten, sah sie einen viel jüngeren Dumbledore vor sich. Obwohl Sein Haar immer noch lang und silbern war, sah sein Gesicht viel weniger faltig aus und leichte Anklänge von Kastanienbraun waren immer noch in seinem Bart zu sehen. Sie beobachtete, wie Dumbledores Augen ihr zerzaustes Aussehen erfassten als sie näher an seinen Schreibtisch trat. Er sah besorgt um sie aus, aber auch ein wenig verwirrt - was gewiss etwas war, das sie noch nie zuvor gesehen hatte.
„Mir wurde gesagt, ich solle Ihnen das geben", sagte sie und legte den Umschlag auf seinen Schreibtisch.
Dumbledores Augen ruhten auf dem Zeitumkehrer um Hermiones Hals, als er aufhob, was sie vor ihm abgelegt hatte. Er warf einen Blick auf die Initialen, die Hermione immer noch nicht erkannte und seine Augen funkelten.
„Ich verstehe. Jetzt wird es klarer", flüsterte er, während er das Siegel zerriss und das Pergament darin herauszog.
Hermione behielt Dumbledore im Auge und wurde mit jedem Moment, der verstrich nervöser. „Sir, ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, wo, äh – ich meine, wann ich bin", sagte sie, als Dumbledore den Brief las.
Er blickte auf und lächelte sie freundlich an. „Nun, Miss Granger, ich weiß, dass Ihnen bewusst ist, dass Sie in Hogwarts sind." Hermione nickte. „Was den Zeitpunkt betrifft", fuhr Dumbledore fort, „sind Sie zum 30. August 1976 gereist."
Das war alles, was Hermione ertragen konnte. Der Gedanke, zweiundzwanzig Jahre zurückgeschickt worden zu sein, war genug, um ihre Knie weich werden zu lassen. Sie hatte nicht damit gerechnet, so weit in die Vergangenheit zu reisen. Das Erbrochene, das sie zu unterdrücken versuchte, floss heraus, überall auf Dumbledores Boden. Der Raum schien sich um sie herum zu schließen und es wirkte so, als sähe sie Dumbledore vom Ende eines langen Tunnels. In ihren Ohren klingelte es, als sie spürte, wie sie zu fallen begann; alles wurde dunkel.